Der Titel dieser Geschichte
lautet: „Demütigung zu ertragen ist eine heilige Eigenschaft“, was
bedeutet, dass ein Mensch mit großer Toleranz ein Heiliger ist. Für mich
sind alle Menschen in dieser Welt Heilige, weil sie solche
Lebensbedingungen ertragen können! Jeden Tag vergießen sie Tränen und
Schweiß, nur um einige Schalen Reis und ein paar Kleider zu verdienen.
Die Leute bedrängen einander und werden bedrängt. Sie lassen sich soviel
gefallen von ihren Vorgesetzten und Kollegen, Ehegatten und
Familienangehörigen, von ihren Freunden und Feinden. Oh, dies alles
ertragen zu können ist wahrhaftig eine heilige Eigenschaft! Wenn ich
Gott wäre, würde ich alle Menschen auf Erden zu Gottheiten ernennen (Beifall),
weil ich das Gefühl habe, dass es große Standhaftigkeit erfordert, in
dieser Welt zu leben. Aber lasst uns sehen, wie die Inder das sehen.
Viele Inder beschäftigen sich mit spiritueller Praxis, aber ihre
Ansichten sind vielleicht nicht immer die meinen.
Eines Tages rief ein Inder, der
unbedingt einen spirituellen Pfad einschlagen wollte, einen erleuchteten
Meister an und bat ihn um die Einweihung, indem er ihn anflehte, ihm
eine Methode der Praxis zu vermitteln, die ihm erlauben würde, Gott
schnell zu sehen. Da der Mann so eifrig war, gewährte ihm der Meister
die Einweihung, und dann instruierte er ihn, jeden Tag eine bestimmte
Zeitlang zu meditieren, sich auf vegetarische Kost umzustellen und die
Fünf Gebote zu halten. Der Meister sagte ihm auch, wenn er in seiner
spirituellen Praxis schneller vorankommen wolle, solle er sich eine
Höhle zum Meditieren suchen und nur ein oder zwei einfache Mahlzeiten am
Tag essen. Er sagte dem Mann auch, er solle es vermeiden, mit weltlichen
Menschen Umgang zu pflegen, damit er nicht abgelenkt würde. Wenn er
weiterhin in der banalen Welt arbeiten würde, hätte er viel Ärger und
wäre nicht imstande, sich auf seine spirituelle Praxis zu konzentrieren.
Früher war das Leben der
Menschen einfacher. Wenn sie eine Höhle zum Meditieren suchten, konnten
sie einfach losgehen, anders als wir modernen Leute, die sich um so
viele Dinge kümmern müssen wie: „Ich habe mein Auto oder meine Hypothek
noch nicht abbezahlt.“ „Das Aufladen meiner Kreditkarte wird fällig.“ „Ich
habe meine Strom- und Gasrechnungen nicht bezahlt! Oh, es ist unmöglich!“
Wenn in alten Zeiten Leute in eine Höhle gehen wollten, um zu meditieren,
war alles, was sie tun mußten, ihrer Gattin zu sagen: „Ich gehe jetzt.
In sechs Monaten oder einem Jahr werde ich zurück sein. Bring mir bitte
jeden Tag etwas zu Essen in der Zeit.“ So einfach war das!
Wenn wir heutzutage irgendwo
hinwollen, müssen wir so viele Dinge regeln. Wir sind auch in soviel
Bürokratie verstrickt. Und es sind nicht nur die Reichen, die so
angebunden sind. Jeder gewöhnliche Mensch, sofern er ein Haus oder ein
Auto besitzt, ist genauso angebunden. Und solange er in dieser Welt lebt,
muss er ungezählte Formulare ausfüllen. Wenn die Formulare nicht korrekt
ausgefüllt sind, kann er nirgendwo hingehen. Darum sind die Menschen
nicht frei. Es ist in jedem Land dasselbe. Die Regierung hat die
Information aus eurem Pass und kann euch mühelos aufspüren.
Nun zurück zu jenem Inder. Sein
Meister sagte ihm: „Nach einem Jahr, wenn du gut meditiert und gute
Resultate erzielt hast, kommst du zu mir zurück. Bevor du aber kommst,
bade dich dreimal im Fluss. Komm erst her, wenn du dich gründlich
gereinigt hast. Dann werde ich mir die Ergebnisse deiner spirituellen
Praxis ansehen.“ Der Mann befolgte die Anweisungen seines Meisters
gewissenhaft. Er fand eine kleine Höhle in den Bergen, meditierte dort
fleißig und aß nur einmal am Tag eine einfache Mahlzeit.
Ein Jahr verging rasch, und
eines Tages erfuhr der Meister, dass der Schüler ihn am nächsten Tag
besuchen wolle. So sagte er zu seinem Diener, der sein Zimmer aufräumte:
„Morgen wird jener Schüler aus der Höhle herkommen. Erwarte ihn am Tor.
Wenn er ankommt, schütte allen Müll, den du heute zusammenkehrst, über
ihm aus.“ Der Schüler musste natürlich der Anweisung seines Meisters
folgen, und als der Mann am nächsten Tag kam, hatte er schon dreimal
gebadet, und sein ganzer Körper war peinlich sauber. Außerdem war er
nach einem Jahr der Meditation und bei nur einer Mahlzeit am Tag, sehr
heilig geworden. Den Geruch seiner Heiligkeit konnte man schon aus
weiter Ferne wahrnehmen. Er fürchtete sich, seinen Meister zu treffen
und ihm von seinen spirituellen Erfahrungen zu berichten. Aber sobald er
an das Tor kam, kippte der Diener den Müll über ihm aus.
Wow!
Wisst ihr, wie der Schüler reagierte? Er war wütend. Er schrie den
Burschen an: „ Du mit deinem abgrundtiefen Karma! Weißt du nicht, wer
ich bin? Ich bin gerade aus einem einjährigen Retreat zurückgekommen!
Wie kannst du es wagen, mich mit Müll zu überschütten?“ (Meisterin und
Zuhörer lachen.) Damit schnappte er sich den Besen des Dieners und lief
ihm hinterher. Aber der Diener versteckte sich hurtig hinter dem
Meister, so dass der Mann ihn nicht erwischte. Dem Schüler blieb nichts
weiter übrig, als wieder an den Fluss zu gehen und sich zu reinigen.
Danach kehrte er zu seinem Meister zurück und sagte: „Meister, ich habe
ein Jahr lang meditiert. Ich habe alles getan, was du mir befohlen hast.
Wann kann ich Gott sehen?“
Und sein Meister erwiderte:
„Gut! Aber du kannst Verstand und Herz noch nicht vollkommen
kontrollieren. Du verlierst die Beherrschung und willst Leute verprügeln.
Ja, in der Tat, mein Diener handelte töricht, aber sieh dich an! Du hast
dich wie ein Tiger verhalten, wie eine Viper! Du bist ihm nachgelaufen
und hast versucht, ihn zu schlagen. So kannst du Gott nicht sehen. Du
musst in die Höhle zurückkehren, Buße tun und ein weiteres Jahr
meditieren.“ Darauf sagte der Schüler: „Okay, ich verstehe. Danke,
Meister, dass Du mich auf mein ignorantes Verhalten aufmerksam machst.
Ich werde mich bestimmt bessern.“ So kehrte er in die Höhle zurück und
meditierte sehr ernsthaft und gewissenhaft.
Ein weiteres Jahr verging, und
wieder rief der Meister seinen Diener und sagte: „Morgen wird der
Schüler aus der Höhle zurückkehren und zu mir kommen, nachdem er ein Bad
genommen hat. Erwarte ihn am Tor. Wenn er ankommt, schütte den Inhalt
des Nachttopfes über ihm aus.“ Letztes Mal war es Müll, diesmal
Nachschmutz. Früher hatten die Leute keine Toiletten, darum benutzten
sie Nachttöpfe. Der Diener gehorchte pflichtgemäß und erwartete den
Schüler am Tor. Als er ankam, leerte der Diener den ganzen Topf mit
Nachtschmutz bis zum letzten Tropfen über seinem Kopf! (Die Zuhörer
lachen.) Der Geruch des Nachtabfalls war so penetrant, dass er den
Geruch der Heiligkeit des Mannes überdeckte. (Meisterin und Zuhörer
lachen.)
Wieder rastete der Mann aus und
schrie: „Wenn ich dich erwische, werde ich dich in Staub verwandeln! Wie
kannst du es wagen, solch stinkendes Zeug über meinen heiligen Körper zu
schütten! Weißt du nicht, dass ich schon zwei Jahre meditiert habe? Ich
habe dreiundzwanzig Stunden am Tag meditiert und nur einmal am Tag
gegessen! Wie kannst du es wagen, mir so etwas anzutun!“ Sein Gesicht
wurde puterrot, und er erging sich in heftigen Schimpftiraden, aber da
er den Diener nicht zu fassen kriegte, gab er auf und ging zum Fluss
zurück, um sich zu reinigen. Dann kehrte er zu seinem Meister zurück und
sagte: „Meister, ich habe deine Anweisungen befolgt und ein weiteres
ganzes Jahr meditiert und die Gebote strikt eingehalten.“ (Da niemand
weiter in der Höhle war, gab es wirklich keinen Anlaß, die Gebote zu
übertreten.) (Die Zuhörer lachen.) Dann fuhr er fort: „Tag für Tag hatte
ich nichts als Sesampulver, braunen Reis und dazu Wasser aus dem Fluss.
Wann kann ich Gott sehen? Meister, du hast versprochen, dass ich nach
einem weiteren Jahr der Meditation Gott sehen kann. Nun habe ich schon
zwei Jahre meditiert. Warum kann ich Gott immer noch nicht sehen?“
Der
Meister sagte: „Kind, du kannst dich noch nicht kontrollieren. Du hast
dich benommen wie ein tollwütiger Hund. Der Diener schüttete nur so ein
bißchen Zeug über deinen Körper. Es war nichts weiter als die Chapatis (indisches
Fladenbrot) von gestern. (Die Zuhörer lachen.) Und du hast ihn gejagt,
ihn angeschrien und bedroht. Meinst du, dass sich ein Heiliger so
verhalten würde? Kann man auf diese Weise Gott sehen?“ Da schämte sich
der Schüler sehr und sagte: „Nun verstehe ich. Danke, Meister. Ich werde
mich bestimmt bessern. Was soll ich nun tun?“
Der Meister erwiderte: „Ich
werde dir noch eine Chance geben. Geh und meditiere ein weiteres Jahr,
aber wenn du nächstes Mal nicht bestehst, werde ich dich nicht mehr
unterrichten. Auch Gott wird dir keine Chance mehr geben, darum sei
wachsam! Dies ist deine letzte Chance.“ Dann kehrte der Mann in die
Höhle zurück, um zu meditieren. Tag für Tag betete und meditierte er
aufrichtig und befolgte alle Instruktionen seines Meisters. So war der
Mann richtig gut; er wollte wirklich Gott sehen.
Bald war auch das dritte Jahr
vergangen, und sein Meister kam wieder auf seine alten Tricks zurück.
Andere lehrte er ständig, gute Taten zu tun, aber er selbst tat so
hinterhältige Dinge, um seine Schüler herauszufordern. Der Schüler hatte
gerade ein schwieriges Ein-Jahres-Retreat beendet und dachte, er wäre
nun frei, so verließ er frohgemut seine Höhle und nahm ein gutes Bad.
Aber der Meister hatte wieder Unrat und Nachtschmutz über ihm
ausgegossen. Was für eine Art Meister war das? Der Meister lehrte seine
Schüler ständig, gut zu sein, höflich und sanft, die Leute nicht
herauszufordern, sich um andere zu kümmern und andere froh zu machen.
Lehrt das nicht jeder Meister? Der Meister selbst jedoch tat so böse
Dinge! Er bereitete seinem Schüler so viel Ungemach! Er war wirklich
einzig in seiner Art! (Die Meisterin lacht.)
Diesmal rief er seinen Diener
und sagte: „ Morgen wird jener Schüler aus der Höhe zurückkommen. Bring
den Müll samt Nachttopf auf das Dach über dem Tor. Wenn er eintritt,
schütte wieder den ganzen Schmutz über ihm aus.“ So tat der Diener, wie
ihm geheißen.
Aber diesmal war der Schüler
imstande, sich zu beherrschen und explodierte nicht. Ich frage mich, ob
er sich wirklich beherrschen konnte, oder ob es daher kam, dass er schon
zweimal schlechte Erfahrungen gemacht hatte und daher nicht mehr
verrückt spielte. (Die Zuhörer lachen.) Vielleicht war dieser Meister
selbst nicht sehr erleuchtet. Wenn er immer dieselbe Prüfung auferlegte,
hätte der Schüler vorbereitet sein sollen, aber vielleicht auch nicht.
Wenn ein Mensch sehr unwissend ist oder von Dämonen besessen, wird er
nichts verstehen. Er wird alles vergessen, auch seine eigenen guten
Eigenschaften und sein freundliches Wesen. Zum Glück erinnerte sich der
Schüler jedoch. Vielleicht besaß er große Entschlossenheit und ein gutes
Gedächtnis. Er wusste, dass er unter keinen Umständen ärgerlich werden
sollte. Er wusste, falls er wieder Unrat abbekommen würde, musste er
nichts weiter tun, als wieder ein Bad zu nehmen. Das war alles! So wurde
er vielleicht schlauer. Aber konnte er sich wirklich beherrschen? Wir
wissen es nicht. Wie dem auch sei, als der Diener diesmal wieder den
Unrat über ihm auskippte, war er nicht nur nicht sauer, er bedankte sich
sogar bei dem Diener. (Die Zuhörer lachen.)
Lehrt die Höchste Meisterin
Ching Hai nicht denselben Trick? Wenn andere uns schelten oder schlagen,
müssen wir ihnen danken. Lehrt Sie euch dies? (Zuhörer: ‚Ja.‘) Ich
erinnere mich, das mehrmals von Ihr gehört zu haben, aber habt ihr Ihre
Lehre im täglichen Leben angewendet, bzw. fühlt ihr noch das Bedürfnis,
andere zu verprügeln? Diesmal dankte der indische Schüler dem Diener.
Vielleicht hatte er wirklich Selbstkontrolle erreicht. Er sagte demütig:
„Bruder, du hast mir eine große Gunst erwiesen. Wenn du mich nicht auf
diese Weise behandelt hättest, wäre ich nicht imstande gewesen, mich von
meinem Ärger oder der negativen Kraft zu lösen, die mich gebunden hielt.
Ich danke dir vom Grunde meines Herzens!“ Dann verneigte er sich dreimal
vor dem Diener und ging zu seinem Meister.
Gleich darauf gab ihm der
Meister die wahre Einweihung. Vielleicht war das, was der Mann früher
von seinem Meister gelernt hatte, nur die Einfache Methode, und erst als
er seine Haltung dem Diener gegenüber geändert hatte, erhielt er die
formale Einweihung vom Meister. Während seiner Einweihung sah er
tatsächlich das innere Licht und hörte den inneren Klang. Er sah Gott!
So war er erfrischt. 
