Die Meisterin erzählt Geschichten

Demütigung zu ertragen
ist eine heilige Eigenschaft

 

Von der Höchsten Meisterin Ching Hai, Hsihu, Formosa, 8. Januar 1995
(Original in Chinesisch)

Der Titel dieser Geschichte lautet: „Demütigung zu ertragen ist eine heilige Eigenschaft“, was bedeutet, dass ein Mensch mit großer Toleranz ein Heiliger ist. Für mich sind alle Menschen in dieser Welt Heilige, weil sie solche Lebensbedingungen ertragen können! Jeden Tag vergießen sie Tränen und Schweiß, nur um einige Schalen Reis und ein paar Kleider zu verdienen. Die Leute bedrängen einander und werden bedrängt. Sie lassen sich soviel gefallen von ihren Vorgesetzten und Kollegen, Ehegatten und Familienangehörigen, von ihren Freunden und Feinden. Oh, dies alles ertragen zu können ist wahrhaftig eine heilige Eigenschaft! Wenn ich Gott wäre, würde ich alle Menschen auf Erden zu Gottheiten ernennen (Beifall), weil ich das Gefühl habe, dass es große Standhaftigkeit erfordert, in dieser Welt zu leben. Aber lasst uns sehen, wie die Inder das sehen. Viele Inder beschäftigen sich mit spiritueller Praxis, aber ihre Ansichten sind vielleicht nicht immer die meinen.

Eines Tages rief ein Inder, der unbedingt einen spirituellen Pfad einschlagen wollte, einen erleuchteten Meister an und bat ihn um die Einweihung, indem er ihn anflehte, ihm eine Methode der Praxis zu vermitteln, die ihm erlauben würde, Gott schnell zu sehen. Da der Mann so eifrig war, gewährte ihm der Meister die Einweihung, und dann instruierte er ihn, jeden Tag eine bestimmte Zeitlang zu meditieren, sich auf vegetarische Kost umzustellen und die Fünf Gebote zu halten. Der Meister sagte ihm auch, wenn er in seiner spirituellen Praxis schneller vorankommen wolle, solle er sich eine Höhle zum Meditieren suchen und nur ein oder zwei einfache Mahlzeiten am Tag essen. Er sagte dem Mann auch, er solle es vermeiden, mit weltlichen Menschen Umgang zu pflegen, damit er nicht abgelenkt würde. Wenn er weiterhin in der banalen Welt arbeiten würde, hätte er viel Ärger und wäre nicht imstande, sich auf seine spirituelle Praxis zu konzentrieren.

Früher war das Leben der Menschen einfacher. Wenn sie eine Höhle zum Meditieren suchten, konnten sie einfach losgehen, anders als wir modernen Leute, die sich um so viele Dinge kümmern müssen wie: „Ich habe mein Auto oder meine Hypothek noch nicht abbezahlt.“ „Das Aufladen meiner Kreditkarte wird fällig.“ „Ich habe meine Strom- und Gasrechnungen nicht bezahlt! Oh, es ist unmöglich!“ Wenn in alten Zeiten Leute in eine Höhle gehen wollten, um zu meditieren, war alles, was sie tun mußten, ihrer Gattin zu sagen: „Ich gehe jetzt. In sechs Monaten oder einem Jahr werde ich zurück sein. Bring mir bitte jeden Tag etwas zu Essen in der Zeit.“ So einfach war das!

Wenn wir heutzutage irgendwo hinwollen, müssen wir so viele Dinge regeln. Wir sind auch in soviel Bürokratie verstrickt. Und es sind nicht nur die Reichen, die so angebunden sind. Jeder gewöhnliche Mensch, sofern er ein Haus oder ein Auto besitzt, ist genauso angebunden. Und solange er in dieser Welt lebt, muss er ungezählte Formulare ausfüllen. Wenn die Formulare nicht korrekt ausgefüllt sind, kann er nirgendwo hingehen. Darum sind die Menschen nicht frei. Es ist in jedem Land dasselbe. Die Regierung hat die Information aus eurem Pass und kann euch mühelos aufspüren.

Nun zurück zu jenem Inder. Sein Meister sagte ihm: „Nach einem Jahr, wenn du gut meditiert und gute Resultate erzielt hast, kommst du zu mir zurück. Bevor du aber kommst, bade dich dreimal im Fluss. Komm erst her, wenn du dich gründlich gereinigt hast. Dann werde ich mir die Ergebnisse deiner spirituellen Praxis ansehen.“ Der Mann befolgte die Anweisungen seines Meisters gewissenhaft. Er fand eine kleine Höhle in den Bergen, meditierte dort fleißig und aß nur einmal am Tag eine einfache Mahlzeit.

Ein Jahr verging rasch, und eines Tages erfuhr der Meister, dass der Schüler ihn am nächsten Tag besuchen wolle. So sagte er zu seinem Diener, der sein Zimmer aufräumte: „Morgen wird jener Schüler aus der Höhle herkommen. Erwarte ihn am Tor. Wenn er ankommt, schütte allen Müll, den du heute zusammenkehrst, über ihm aus.“ Der Schüler musste natürlich der Anweisung seines Meisters folgen, und als der Mann am nächsten Tag kam, hatte er schon dreimal gebadet, und sein ganzer Körper war peinlich sauber. Außerdem war er nach einem Jahr der Meditation und bei nur einer Mahlzeit am Tag, sehr heilig geworden. Den Geruch seiner Heiligkeit konnte man schon aus weiter Ferne wahrnehmen. Er fürchtete sich, seinen Meister zu treffen und ihm von seinen spirituellen Erfahrungen zu berichten. Aber sobald er an das Tor kam, kippte der Diener den Müll über ihm aus. 

Wow! Wisst ihr, wie der Schüler reagierte? Er war wütend. Er schrie den Burschen an: „ Du mit deinem abgrundtiefen Karma! Weißt du nicht, wer ich bin? Ich bin gerade aus einem einjährigen Retreat zurückgekommen! Wie kannst du es wagen, mich mit Müll zu überschütten?“ (Meisterin und Zuhörer lachen.) Damit schnappte er sich den Besen des Dieners und lief ihm hinterher. Aber der Diener versteckte sich hurtig hinter dem Meister, so dass der Mann ihn nicht erwischte. Dem Schüler blieb nichts weiter übrig, als wieder an den Fluss zu gehen und sich zu reinigen. Danach kehrte er zu seinem Meister zurück und sagte: „Meister, ich habe ein Jahr lang meditiert. Ich habe alles getan, was du mir befohlen hast. Wann kann ich Gott sehen?“

Und sein Meister erwiderte: „Gut! Aber du kannst Verstand und Herz noch nicht vollkommen kontrollieren. Du verlierst die Beherrschung und willst Leute verprügeln. Ja, in der Tat, mein Diener handelte töricht, aber sieh dich an! Du hast dich wie ein Tiger verhalten, wie eine Viper! Du bist ihm nachgelaufen und hast versucht, ihn zu schlagen. So kannst du Gott nicht sehen. Du musst in die Höhle zurückkehren, Buße tun und ein weiteres Jahr meditieren.“ Darauf sagte der Schüler: „Okay, ich verstehe. Danke, Meister, dass Du mich auf mein ignorantes Verhalten aufmerksam machst. Ich werde mich bestimmt bessern.“ So kehrte er in die Höhle zurück und meditierte sehr ernsthaft und gewissenhaft.

Ein weiteres Jahr verging, und wieder rief der Meister seinen Diener und sagte: „Morgen wird der Schüler aus der Höhle zurückkehren und zu mir kommen, nachdem er ein Bad genommen hat. Erwarte ihn am Tor. Wenn er ankommt, schütte den Inhalt des Nachttopfes über ihm aus.“ Letztes Mal war es Müll, diesmal Nachschmutz. Früher hatten die Leute keine Toiletten, darum benutzten sie Nachttöpfe. Der Diener gehorchte pflichtgemäß und erwartete den Schüler am Tor. Als er ankam, leerte der Diener den ganzen Topf mit Nachtschmutz bis zum letzten Tropfen über seinem Kopf! (Die Zuhörer lachen.) Der Geruch des Nachtabfalls war so penetrant, dass er den Geruch der Heiligkeit des Mannes überdeckte. (Meisterin und Zuhörer lachen.)

Wieder rastete der Mann aus und schrie: „Wenn ich dich erwische, werde ich dich in Staub verwandeln! Wie kannst du es wagen, solch stinkendes Zeug über meinen heiligen Körper zu schütten! Weißt du nicht, dass ich schon zwei Jahre meditiert habe? Ich habe dreiundzwanzig Stunden am Tag meditiert und nur einmal am Tag gegessen! Wie kannst du es wagen, mir so etwas anzutun!“ Sein Gesicht wurde puterrot, und er erging sich in heftigen Schimpftiraden, aber da er den Diener nicht zu fassen kriegte, gab er auf und ging zum Fluss zurück, um sich zu reinigen. Dann kehrte er zu seinem Meister zurück und sagte: „Meister, ich habe deine Anweisungen befolgt und ein weiteres ganzes Jahr meditiert und die Gebote strikt eingehalten.“ (Da niemand weiter in der Höhle war, gab es wirklich keinen Anlaß, die Gebote zu übertreten.) (Die Zuhörer lachen.) Dann fuhr er fort: „Tag für Tag hatte ich nichts als Sesampulver, braunen Reis und dazu Wasser aus dem Fluss. Wann kann ich Gott sehen? Meister, du hast versprochen, dass ich nach einem weiteren Jahr der Meditation Gott sehen kann. Nun habe ich schon zwei Jahre meditiert. Warum kann ich Gott immer noch nicht sehen?“

Der Meister sagte: „Kind, du kannst dich noch nicht kontrollieren. Du hast dich benommen wie ein tollwütiger Hund. Der Diener schüttete nur so ein bißchen Zeug über deinen Körper. Es war nichts weiter als die Chapatis (indisches Fladenbrot) von gestern. (Die Zuhörer lachen.) Und du hast ihn gejagt, ihn angeschrien und bedroht. Meinst du, dass sich ein Heiliger so verhalten würde? Kann man auf diese Weise Gott sehen?“ Da schämte sich der Schüler sehr und sagte: „Nun verstehe ich. Danke, Meister. Ich werde mich bestimmt bessern. Was soll ich nun tun?“

Der Meister erwiderte: „Ich werde dir noch eine Chance geben. Geh und meditiere ein weiteres Jahr, aber wenn du nächstes Mal nicht bestehst, werde ich dich nicht mehr unterrichten. Auch Gott wird dir keine Chance mehr geben, darum sei wachsam! Dies ist deine letzte Chance.“ Dann kehrte der Mann in die Höhle zurück, um zu meditieren. Tag für Tag betete und meditierte er aufrichtig und befolgte alle Instruktionen seines Meisters. So war der Mann richtig gut; er wollte wirklich Gott sehen.

Bald war auch das dritte Jahr vergangen, und sein Meister kam wieder auf seine alten Tricks zurück. Andere lehrte er ständig, gute Taten zu tun, aber er selbst tat so hinterhältige Dinge, um seine Schüler herauszufordern. Der Schüler hatte gerade ein schwieriges Ein-Jahres-Retreat beendet und dachte, er wäre nun frei, so verließ er frohgemut seine Höhle und nahm ein gutes Bad. Aber der Meister hatte wieder Unrat und Nachtschmutz über ihm ausgegossen. Was für eine Art Meister war das? Der Meister lehrte seine Schüler ständig, gut zu sein, höflich und sanft, die Leute nicht herauszufordern, sich um andere zu kümmern und andere froh zu machen. Lehrt das nicht jeder Meister? Der Meister selbst jedoch tat so böse Dinge! Er bereitete seinem Schüler so viel Ungemach! Er war wirklich einzig in seiner Art! (Die Meisterin lacht.)

Diesmal rief er seinen Diener und sagte: „ Morgen wird jener Schüler aus der Höhe zurückkommen. Bring den Müll samt Nachttopf auf das Dach über dem Tor. Wenn er eintritt, schütte wieder den ganzen Schmutz über ihm aus.“ So tat der Diener, wie ihm geheißen.

Aber diesmal war der Schüler imstande, sich zu beherrschen und explodierte nicht. Ich frage mich, ob er sich wirklich beherrschen konnte, oder ob es daher kam, dass er schon zweimal schlechte Erfahrungen gemacht hatte und daher nicht mehr verrückt spielte. (Die Zuhörer lachen.) Vielleicht war dieser Meister selbst nicht sehr erleuchtet. Wenn er immer dieselbe Prüfung auferlegte, hätte der Schüler vorbereitet sein sollen, aber vielleicht auch nicht. Wenn ein Mensch sehr unwissend ist oder von Dämonen besessen, wird er nichts verstehen. Er wird alles vergessen, auch seine eigenen guten Eigenschaften und sein freundliches Wesen. Zum Glück erinnerte sich der Schüler jedoch. Vielleicht besaß er große Entschlossenheit und ein gutes Gedächtnis. Er wusste, dass er unter keinen Umständen ärgerlich werden sollte. Er wusste, falls er wieder Unrat abbekommen würde, musste er nichts weiter tun, als wieder ein Bad zu nehmen. Das war alles! So wurde er vielleicht schlauer. Aber konnte er sich wirklich beherrschen? Wir wissen es nicht. Wie dem auch sei, als der Diener diesmal wieder den Unrat über ihm auskippte, war er nicht nur nicht sauer, er bedankte sich sogar bei dem Diener. (Die Zuhörer lachen.)

Lehrt die Höchste Meisterin Ching Hai nicht denselben Trick? Wenn andere uns schelten oder schlagen, müssen wir ihnen danken. Lehrt Sie euch dies? (Zuhörer: ‚Ja.‘) Ich erinnere mich, das mehrmals von Ihr gehört zu haben, aber habt ihr Ihre Lehre im täglichen Leben angewendet, bzw. fühlt ihr noch das Bedürfnis, andere zu verprügeln? Diesmal dankte der indische Schüler dem Diener. Vielleicht hatte er wirklich Selbstkontrolle erreicht. Er sagte demütig: „Bruder, du hast mir eine große Gunst erwiesen. Wenn du mich nicht auf diese Weise behandelt hättest, wäre ich nicht imstande gewesen, mich von meinem Ärger oder der negativen Kraft zu lösen, die mich gebunden hielt. Ich danke dir vom Grunde meines Herzens!“ Dann verneigte er sich dreimal vor dem Diener und ging zu seinem Meister.

Gleich darauf gab ihm der Meister die wahre Einweihung. Vielleicht war das, was der Mann früher von seinem Meister gelernt hatte, nur die Einfache Methode, und erst als er seine Haltung dem Diener gegenüber geändert hatte, erhielt er die formale Einweihung vom Meister. Während seiner Einweihung sah er tatsächlich das innere Licht und hörte den inneren Klang. Er sah Gott! So war er erfrischt.


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